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digitalsee-kultur #2:

Viele Unternehmen stellen ihre flachen Hierarchien als Qualitätsmerkmal und Vorteil für die Mitarbeiter heraus. Dahinter steckt die Annahme, dass flache Hierarchien im Regelfall zu schnelleren Entscheidungen führen. Meist ist das aber ein Irrtum und die wirklich funktionierende Lösung sieht anders aus.

Die Anzahl der Hierarchieebenen hat in der betrieblichen Realität für den einzelnen Mitarbeiter tatsächlich wenig Bedeutung. Denn welchen Mehrwert bringen flache Hierarchien für mich als Mitarbeiter? Direkter Kontakt zum Chef? Zu seinem persönlichen Vorgesetzten hat man entweder einen guten und direkten Kontakt oder auch nicht, aber das hängt nicht von der Anzahl der Hierarchieebenen ab.  Direkter Kontakt zu Hierarchieebenen über dem eigenen direkten Vorgesetzten? Vielleicht sogar die Möglichkeit, mit dem Vorstand oder der Geschäftsführung direkt zu kommunizieren? Auch das hängt von der Kommunikationskultur im Unternehmen ab und nicht von der Anzahl der Hierarchieebenen. Und die persönliche Ebene der Kommunikation, das “per Du”-sein mit dem Chef, ein lockeres und angenehmes Arbeitsklima etc. hängt -wenn man genau darüber nachdenkt- von der eigenen und der Persönlichkeit des Chefs ab und nicht von der Anzahl der Ebenen.

Der einzige wirkliche Vorteil, den man erwarten könnte, sind tatsächlich schnellere Entscheidungen. Aber stimmt das tatsächlich? Führen flache Hierarchien zu deutlich schnelleren Entscheidungen? Machen wir mal ein kleines Gedankenexperiment:

Ein fiktives Unternehmen A hat in einem bestimmten Zeitraum X vielleicht 1000 Entscheidungen zu treffen. Wenn diese 1000 Entscheidungen nun durch sagen wir 5 Hierarchieebenen wandern, dann gibt es natürlich Zeitverluste: rumliegen in E-Mail-Postfächern, Kompetenzunklarheiten oder -streitigkeiten, Hin- und Herdelegationen, Verantwortungspingpong. Stellen wir uns das gleiche Unternehmen mit 3 Hierarchieebenen vor. Wir haben dann immer noch 1000 Entscheidungen zu treffen von der gleichen Anzahl von Personen. Es gibt immer noch Rumliegen in E-Mail-Postfächern, Kompetenzunklarheiten etc. Tatsächlich eingespart hat man ein wenig Wegezeit zwischen den Ebenen und vielleicht die eine oder andere Delegation. Erfahrungen zeigen, dass der Effektivitätsgewinn bei 10% bis 15% liegt.  Ganz nach hinten los geht das Ganze, wenn mit der Reduktion der Ebenen auch eine Reduktion der jeweiligen Führungskräfte einher geht und die Anzahl der Entscheidungen gleich bleibt. Dann hat jede Führungskraft mehr Entscheidungen zu treffen und die durchschnittliche Dauer pro Entscheidung wird sogar steigen.

Auch die gerne angeführte Geschwindigkeit der Kommunikation über alle Hierarchieebenen verändert sich kaum durch die Reduktion der Ebenen. Eine per E-Mail weitergereichte kritische Information kann innerhalb von Minuten durch die Ebenen wandern und wenn eine solche Information auf irgendeiner Ebene in einem Postfach für Stunden oder gar Tage versauert, ist es auch egal, wieviel Ebenen sie danach noch überwinden muss.

Diese Überlegung macht deutlich, dass die Lösung nicht in der Anzahl der Ebenen zu suchen ist. Stattdessen müssen wir uns um eine andere Variable der Gleichung kümmern: die Anzahl der Entscheider! Davon brauchen wir nicht weniger, sondern mehr. Deutlich mehr! Wer jetzt eine Inflation an Führungskräften befürchtet, denkt in die falsche Richtung.  Gemeint ist: ich muss vermeiden, dass Entscheidungen überhaupt durch die Hierarchieebenen wandern, indem ich jeden Mitarbeiter in die Lage versetze, so viele Entscheidungen wie nur irgend möglich selbst zu treffen. Wenn jeder Mitarbeiter für fast alle Entscheidungen die eigene Entscheidungsinstanz ist, DANN habe ich tatsächliche schnelle Entscheidungen!

Wie sieht das in der Praxis aus? Wir haben bei uns im Unternehmen zunächst einmal die Entscheidungen eliminiert, die wir “Nicht-Entscheidungen” oder “Bullshit-Entscheidungen” nennen. Das sind Entscheidungen, die nur so tun als wären sie Entscheidungen, in Wirklichkeit aber nur sinnlos Leute beschäftigen. Ein paar Beispiele:

  • Ein Mitarbeiter braucht eine neue Maus oder eine neue Tastatur oder einen neuen Monitor oder einen neuen Laptop. In vielen Unternehmen braucht es dazu der Freigabe durch eine Führungskraft. Warum eigentlich? Hat tatsächlich schon mal jemand eine Führungskraft erlebt, die dem Mitarbeiter gesagt hat: “Nö, Du bekommst keine neue Maus, Du kannst auch mal ein paar Wochen ohne arbeiten?” Oder, noch schlimmer: “Weise mir bitte erstmal nach, dass Dein Laptop tatsächlich kaputt ist.” Dann kann ich meinem Mitarbeiter auch gleich direkt sagen, dass ich ihm nicht vertraue und ihn für einen potentiellen Geldverschwender oder gar Betrüger halte. Unsere Kollegen bestellen sich einfach die Dinge, die sie benötigen. Natürlich geht dabei auch mal was schief oder der Laptop wird etwas üppiger konfiguriert, als es unbedingt nötig wäre. Aber wenn man das gegen die eingesparte Zeit für solche “Nicht-Entscheidungen” bei diversen Führungskräften rechnet, ist das auch betriebswirtschaftlich ein gutes Geschäft.
  • Eine Mitarbeiterin möchte einen Kunden besuchen und plant dafür eine Dienstreise. Warum sollte sie sich die genehmigen lassen müssen? Welche Führungskraft wird ernsthaft Einwände gegen Kundentermine haben? Unsere Mitarbeiter entscheiden über ihre Dienstreisen selbst und buchen sie auch selbst (wir sparen also noch viel Geld, indem wir auf zentrale “Reiseabteilungen” etc. verzichten). Klar, das ist dann nicht immer das günstigste Hotel. Aber auch hier gilt: das eingesparte Geld durch die Vermeidung von “Nicht-Entscheidungen” und Kontroll-Instanzen wiegt das immer locker auf.
  • Andere Beispiele für “Nicht-Entscheidungen”: Urlaubsanträge, Home Office, Beschaffung von Büromaterial oder Büchern, Seminarteilnahmen…

Natürlich läuft das nicht völlig ungesteuert. Unsere Teams, Bereiche und Projekte haben z.B. für die Beschaffungsthemen oder die Dienstreisen ein jährliches Budget. Über dieses Budget wird gemeinsam entschieden. Aber innerhalb des Budgets trifft jeder seine Entscheidungen selbst. Und das funktioniert.

Dann bleiben schon mal nur noch die Entscheidungen über, bei denen es tatsächlich etwas zu entscheiden gibt. Nehmen wir als Beispiel die Einstellung eines neuen Kollegen. Auch hier vermeiden wir Entscheidungskaskaden. Wer sollte besser über die “Passung” eines neuen Kollegen entscheiden können als das Team, mit dem er oder sie später arbeiten soll? Also trifft das Team (oder ein Teil des Teams) die Entscheidung. Klar, ein Team kann auch mal daneben liegen. Aber wir alle wissen, dass das den professionellen Recruitment-Managern in den Personalabteilungen auch passiert – und nicht mal selten.

Unser Ziel ist es, dass jeder Mitarbeiter oder jedes Team mehr als 95% aller Entscheidungen selbst treffen kann. DANN haben wir tatsächlich schnelle Entscheidungswege – nämlich 95% aller Entscheidungen sofort. Wir erwarten von unseren Mitarbeitern natürlich, dass sie die Entscheidungen nicht leichtfertig treffen, sondern wohlüberlegt und sich ggf. auch Hilfe und Unterstützung z.B. von Kollegen holen. Unser Leitspruch ist: “Handele im besten Sinne des Unternehmens!” Wenn ein Mitarbeiter bei einer Entscheidung unsicher ist, kann er auch gerne seine jeweilige Führungskraft fragen. Allerdings nehmen unsere Führungskräfte den Mitarbeitern die Entscheidung dann im Regelfall nicht ab, sondern fragen “Was brauchst Du, damit Du die Entscheidung selbst treffen kannst?”

Für unsere Mitarbeiter entsteht in dieser Entscheidungskultur ein großer Freiraum für sinnvolles Handeln und damit natürlich auch eine große Verantwortung. Für die Führungskräfte bedeutet das den völligen Verzicht auf Mikromanagement. Führungskräfte, die ihre berufliche Effektivität in der Anzahl der getroffenen Entscheidungen messen oder es nicht vertragen können, wenn Mitarbeiter ohne Rücksprache handeln, sind bei uns falsch.

(In diesem Zusammenhang können wir gleich noch einen anderen Mythos abräumen: die Führungsspanne. Die Standardmeinung dazu ist: eine Führungsspanne von 7 Mitarbeitern ist optimal. Wir sagen: eine Führungsspanne von 50 Mitarbeitern ist optimal. Mit einer solchen Anzahl von Mitarbeitern kommt die Führungskraft nämlich gar nicht auf die Idee, sich in Entscheidungen einzumischen oder Mikromanagement zu betreiben. Stattdessen muss sie mit den Mitarbeitern Ziele, Aufgabenbereiche, Kompetenzen abstimmen und dann darauf vertrauen, dass die Mitarbeiter in ihrem Verantwortungsbereich schon wissen, was sie tun.)

Fassen wir zusammen: schnelle Entscheidungen bekomme ich dann, wenn jeder Mitarbeiter so viele Entscheidungen wie nur möglich selbst trifft. Dazu braucht es Vertrauen und Verantwortung bei Mitarbeitern und Führungskräften. Wenn ich eine sehr hohe Entscheidungskompetenz bei allen Mitarbeitern habe, ist die Frage nach der Anzahl der Hierarchiestufen völlig irrelevant. Wenn ich also als potentieller Mitarbeiter an einem Unternehmen mit “flachen Hierarchien” interessiert bin, sollte ich sehr genau nach den Entscheidungskompetenzen und Entscheidungsstrukturen fragen, weil das der eigentlich relevante Sachverhalt ist.

Natürlich passieren mit einer Entscheidungskultur wie der unseren auch mal Fehler. Der zweite wesentliche Baustein bzw. die komplementäre Ergänzung für unsere Entscheidungskultur ist deshalb eine dazu passende Fehlerkultur. Aber das ist dann Thema eines weiteren Blogbeitrages.